Am Abend des sechsten Aprils um 20.30 Uhr befand sich die Maschine vom Typ Dassault Falcon 50 im Landeanflug auf den Flughafen der Ruandischen Hauptstadt Kigali. An Bord der Maschine war neben der Crew auch der Präsident von Ruanda Habyarimana und der Präsident von Burundi Cyprien Ntaryamia. Getroffen von einer Bodenluftrakete stürzte das Flugzeug ab und alle Insassen starben. Wer die Rakete auf das Flugzeug feuerte, ist bis heute nicht aufgeklärt. Stunden später begann der Genozid in Ruanda, der bis in den Juli des Jahres andauern sollte. Nach Schätzungen wurden dabei fast 1 Million Menschen getötet und 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit abgeschlachtet. Das alles ereignete sich vor 20 Jahren: 1994.
Im Frühjahr 1995 fuhr ich nach Ruanda. Der journalistische Kontext war damals ein Projekt über das Thema „Flucht“ welches ich zusammen mit vier weiteren Kollegen weltweit fotografierte. Aber das war nur der Kontext, die Motivation kam aus einer anderen Ecke. Ich wollte wissen, wie es den Menschen in einem Land geht, die bis zum Jahr 1994 überwiegend friedlich in einem der kleinsten Länder Afrikas gelebt hatten und die dann von einem Tag auf den anderen begannen ihre Nachbarn und vermeintlichen Feinde abzuschlachten. Das Wort „abschlachten“ ist dabei wörtlich zu nehmen. Die meisten Menschen wurden mit Macheten getötet.
Für mich, als Deutscher, der Mitte der Siebziger Jahre sozialisiert und auch politisiert wurde, der in seiner Heimatstadt Tübingen noch erleben durfte, wie Altnazis an der Universität enttarnt wurden, der den Fall Filbinger hautnah mit erlebt hat, ist die Auseinandersetzung mit der Hitlerherschaft und dem Genozid an den Juden ein zentraler Punkt meines politischen Denkens. Mir war und ist stets bewusst, dass ich als Deutscher in einem Land lebe, von dem eines der größten Verbrechen an der Menschlichkeit ausging. Ich weiß sehr viel über die Hitlerdiktatur und über ihre Entstehung und über den Genozid an der jüdischen Bevölkerung. Ich meine auch zu wissen oder erklären zu können, wieso ein Volk dies mit einer Mehrheit mitgetragen und mitgemacht hat. So wirklich verstehen, vermag ich es trotzdem nicht. So war meine Reise nach Ruanda auch ein Versuch dies alles vielleicht ein bisschen besser verstehen zu können, indem ich mich sehr bewusst dieser Situation des hunderttausendfachen Mordes aussetze …
Wie ist es in einem Land, welches ein solch entsetzliches Gemetzel erlebt hat? Das war meine erste Frage. Meine zweite Frage war: Wie geht es mir damit, wenn ich das fotografiere?
Schrecklich. Unfassbar. Grauenhaft. Sind Worte die ein wenig das (mein) Alltagsgefühl beschreiben, als ich damals durch Ruanda reiste. Man setzte sich in ein Taxi und fragte sich im gleichen Augenblick: ist der Fahrer ein Massenmörder? Oder wurde seine Familie massakriert? Diese Fragen prägten jede Begegnung mit Menschen dort. Es gab schlicht keinerlei Vertrauen. Nur Misstrauen. Und die Angst, dass dies vielleicht jeder Zeit wieder geschehen könnte. Es ist meine einzige Reise gewesen, bei der ich meinem Rückflug entgegen lebte. Nach sechs Wochen hatte ich noch drei Tage Zeit in Kigali, die ich fast nur im Hotel verbrachte. Nach alle dem was ich gesehen und gehört hatte, hatte ich schlicht Angst. Ich wollte nur noch weg, nach Hause, nach Deutschland zurück. Geblieben ist für mich das tief sitzende Gefühl, die Menschen sind überwiegend schlecht.
Die hier gezeigten Bilder sind auf dem Gelände einer kleinen Missionsstation in der hügeligen Grenzregion von Ruanda zu Tansania entstanden. Hierher flüchteten im April 1994 vier Tausend Menschen, die allesamt abgeschlachtet wurden. Da dieses Gelände in einem militärischen Sicherheitsbereich lag, war ein Jahr nach den Massakern noch alles so gut wie unverändert. Man konnte nicht stehen oder gehen ohne auf Leichenteile zu treten. Erst der mich begleitende Soldat brachte mich dazu das Gelände zu betreten. Ich selbst hatte bei dem ersten Anblick abgewunken und ihm zu verstehen gegeben, dass ich lieber wieder gehen würde. Er meinte, dass es wichtig sei, dies alles zu sehen, sich dem auszusetzen, damit man das Ausmaß verstehe, was im April 1994 in Ruanda passiert sei.
Doch wie fotografiert man hunderte von Leichenresten? Wie gestalte ich diese Bilder, damit sie nicht so gestaltet aussehen? Was kann ich erzählen? Wie fotografiert man das Grauen? Wann ist ein Bild vom Grauen gut? Und warum?
All das fragte ich mich. Auf all das hatte ich in diesem konkreten Moment keine Antwort. Auf all das war ich so nicht vorbereitet gewesen, obwohl ich mir tausend Gedanken genau darüber vorher gemacht hatte. Heute fast 20 Jahre später und nach vielen anderen fotografierten Schreckensszenen in Bürgerkriegsländern habe ich eine Vorstellung, wie ich damit umgehen könnte. Damals war ich vermutlich einfach zu jung. Heute weiß ich, dass es nicht nur um das Bild geht, es geht darum mein Bild davon zu machen, meine Gefühle, meine Sichtweise als mögliche Einordnung anzubieten.
Ursprünglich wollte ich jetzt zum April 2014 ein neues Editing machen, schließlich gibt es einen ganzen Leitzordner voll mit Negativen von dieser Reise, aber diese Bilder aus Ruanda zeigen nicht ausreichend meine persönliche Sichtweise, es sind gute Bilder, aber eben nur gute Bilder. Das ist mir in diesem Fall zu wenig.
Die Geschichte erschien damals im ZEIT-Magazin. Das damalige Editing der Serie kann man hier ansehen.