“Eine Brechung findet im Mainstream nicht statt”

Für die Zeitung Neues Deutschland gab ich ein Interview zu der Frage, was Prostest-Fotografie ist und welche Schwierigkeiten damit verbunden sind. Die Fragen stellte Niels Seibert.

Was unterscheidet Protestfotografie von sonstiger journalistischer Fotografie?
Bei jeder journalistischen Fotografie werden Ereignisse oder Prozesse dargestellt. Wenn man Proteste als Sujet hat, steht man vor besonderen Bildern. Eine Demonstration, ich sage es mal etwas despektierlich, ist rein visuell gesprochen nichts anderes als ein Karnevalsumzug. Man hat es mit vorgefertigten Bildern zu tun: Die Leute halten Transparente hoch, sind vielleicht besonders angezogen oder ähnliches. Jetzt hat man die Aufgabe, aus diesem schon fertigen Bild, mit dem man konfrontiert ist, ein eigenes Bild zu kreieren – eine Interpretation der Stimmung oder eine Interpretation der Protestinhalte – und dabei vielleicht auch Sympathie oder Antipathie mitschwingen zu lassen.

Was macht ein gutes Protestfoto aus?
Ein gutes Protestfoto unterscheidet sich von langweiligen Protestfotos im Wesentlichen dadurch, dass es die Emotionen, die meistens dem Protest beiwohnen, zum Ausdruck bringt. Aber wenn man nur die Menschen fotografiert und dem Betrachter keine weiteren Informationen liefert, kann man auch ziemlich daneben liegen. In einem Foto mit nachrichtlichem Wert muss in irgendeiner Weise erkennbar sein, um was es inhaltlich geht und wo wir uns befinden. Und das ist ein Problem, weil man das Thema und den Inhalt einer Demonstration oder Blockade oft nur über ein Transparent mit einem Slogan transportieren und kommunizieren kann.

Auf welche Schwierigkeiten stößt man als Fotograf zwischen Demonstranten und Polizei?
Im Fall von militanten Aktionen haben die Demonstranten kein Interesse, fotografiert zu werden. Gleichzeitig brauchen sie aber diese Öffentlichkeit, denn sie ist in ihrem Interesse. Verkürzt kann man sagen, eine Demonstration, die nicht fotografiert wurde, hat nicht stattgefunden – vor allem für Leute, die am nächsten Tag Zeitung lesen oder Fernsehen gucken.

Bei der Polizei verhält sich das anders. Die Polizei hat gar kein Interesse daran, dass fotografiert wird. Sie verhindert das teilweise direkt, aber auch sehr subtil, indem dich Polizisten nicht durchlassen und dir sagen, der Presseausweis gelte heute nicht. Bei der Demonstration in Hamburg Ende vergangenen Jahres gab es das sehr massiv. Oder sie stellen sich mit dem Rücken vor die Kamera oder schubsen dich weg, weil sie wissen, dass immer wieder Kollegen in diesen sehr stressigen Situationen die Nerven verlieren und Sachen machen, die nicht so hübsch aussehen.

Gleichzeitig ist die Anwesenheit von Journalisten und Pressefotografen in der Instanz als Zeuge auch ein Schutz vor Übergriffen. Wenn fotografiert wird, merkt die Polizei: »Hier gibt es eine Öffentlichkeit, wir können hier nicht einfach tun und lassen, was wir wollen.«

Als Redakteure stehen wir vor dem Problem, dass die Agenturen weitgehend einheitliche Fotos liefern: Militanz, Polizeigewalt oder Menschenmassen mit Fahnen. Warum kommt es zu so einer Vereinheitlichung der nachrichtlichen Ästhetik?
Eine Grundregel, die sich viele zu eigen gemacht haben, lautet: »Ein gutes Foto ist immer ein guter Einstieg in einen Text.« Nehmen wir das Beispiel der Hamburger Demonstration. Schon im Vorfeld wurde darüber sehr erhitzt debattiert. Es war klar, wenn sich ein Demonstrant nur räuspert, wird es richtig Ärger geben. Auch die Redakteure der Agenturen wussten, dass Krawall erwartet wurde und die Kollegen das in ihren Texten aufgreifen werden. Also lieferten sie diesen Krawall mit ihren Bildern. Außerdem sind die Fotografen der Nachrichtenagenturen gezwungen, eine sehr enge Auswahl ihrer Bilder an die Agenturen zu schicken. Und am besten verkaufen sich die Bilder, die alle erwartet haben. Die werden dann auch dankbar genommen.

Mir war aufgefallen, dass nach der Hamburger Demonstration über die Unzahl von Übergriffen, von über 500 verletzten Demonstranten und 120 verletzten Polizisten gesprochen wurde. Es gibt aber nur ein Bild, das ich selbst auch gemacht habe, das einen Polizisten zeigt, der anscheinend verletzt abtransportiert wird. Dieses Bild kursierte immer als Beleg. Die anderen Bilder gibt es nicht, dabei müssten sie in Hülle und Fülle existieren. Diese Bilder entsprechen aber nicht dem Klischee eines Bildredakteurs, der die Erwartungen der Zeitungen und ihrer Leser zu erfüllen versucht und wird demzufolge auch nicht abgedruckt.

Welche Bilder vermissen Sie, wenn Sie das eigens Erlebte später in Zeitungen lesen?
Viel zu wenig wird das Auftreten der Polizei, mit dem wir konfrontiert werden, thematisiert. Es wird nur noch als ein ästhetisches Schauspiel dargeboten. Das ist ein grundlegendes Problem in der Bilderwelt: Wir sind mit sehr vielen oberflächlichen Bildern, ich nenne das Augenfutter, konfrontiert. Man neigt heute dazu, Bilder zu nehmen, die für den Betrachter nicht zu verstörend, die nicht zu anstrengend sind. Susan Sonntag hat das schon vor Jahrzehnten formuliert: Fotojournalismus werde immer mehr Entertainment und lasse die Ernsthaftigkeit an der Sache vermissen.

Es gibt ein zusätzliches Problem, das bei den Fotografen und ihrer Ausbildung liegt. Fotojournalisten meinen zu wissen, was ein gutes Reportagefoto oder ein gutes journalistisches Bild ist. Der Kanon eines guten journalistischen Bildes, den man in wenigen Stichworten wiedergeben kann, wird immer wieder bedient. Deshalb bilden sich sogenannte Bildschablonen heraus, die gerne gesehen werden und bei jedem dritten World-Press-Photo auftauchen, das im Pressefotowettbewerb gewonnen hat. Fotografen bedienen das immer wieder, weil sie wissen, damit ist man erfolgreich. Die Brechung, die wir heute ab und zu mal bräuchten, um mehr Aufmerksamkeit mit einem Foto zu erzeugen, findet im Mainstream nicht statt.

Wie kann ein kritischer Fotograf dem entgegenwirken?
Wir sollten mehr über die Funktionsweise und Rezeption von Fotografie nachdenken. Vor vierzig oder fünfzig Jahren, als die journalistische Fotografie entstand und eine Hochphase hatte, ging es darum, Dinge zu zeigen, die den meisten Menschen unbekannt waren. Das machte die Sensation des Bildjournalismus aus. In der heutigen Welt ist Fotografie wesentlich komplizierter geworden. Es ist nicht mehr – um im Bild zu bleiben – das einfache Schwarzweiß. Oft wird auch vergessen, dass sich die Rezeption journalistischer Bilder im Vergleich zu früheren Zeiten verändert hat. Wir wissen heute viel mehr von der Welt als noch vor dreißig, vierzig Jahren. Das Bilderwissen, das mein 20-jähriger Sohn heute hat, entspricht etwa dem Bilderwissen, was ich im Alter von 35 Jahren hatte.

Wir leben heute in einer Welt, die wesentlich komplexer und differenzierter ist. Um zum Kern eines Problems oder eines Prozesses vorzudringen, muss ich mich mit dem Gegenstand auch inhaltlich intensiver auseinandersetzen anstatt nur eine visuelle Oberfläche zu schaffen. Leider gibt es von den Foto-Machern viel zu wenig Impulse zum Beschreiten neuer Wege und einer inhaltlich fundierten Übersetzung in Fotografien.

Die hier gezeigten Bilder entstanden während der Proteste gegen den G-8 Gipfel in Heiligendamm, 2007 (©Andreas Herzau / laif)

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