Dort habe ich mein erstes Fotobuch gekauft, dort habe ich viele KollegInnen kennengelernt, dort habe ich etliche Freundschaften geschlossen, dort habe ich endlose Gespräche mit viel Kaffee und vor allem vielen Zigaretten geführt: in der PPS-Buchhandlung im Bunker an der Feldstrasse in Hamburg. Lang, lang ist es her. Doch im Mai 2017 sollte alles nochmal für einen Abend zurückkehren – zumindest als Errinnerung bei der Buchvorstellung und der Ausstellung „Im Bunker“. Michael Klein-Reizenstein und Peter Lindhorst haben sich die bildhafte Kundendatei der alten Buchhandlung vorgenommen und daraus ein kleines Büchlein produziert. Denn: viele Kunden und Kundinnen – fast alle FotografInnen – wurden von Michael Klein-Reizenstein mit einer Polaroidkamera portraitiert und hinter der Ladentheke an die Wand gepinnt. Anläßlich der Buchvorstellung und der Ausstellungseröffnung in der Galerie „Enfants Artspace“ von diesem Büchlein „Im Bunker“ hat Peter Lindhorst – selbst langjähriger Buchhändler, Berater und Freund in der PPS-Buchhandlung – einen sehr schönen Text geschrieben, der von ihm selbst vorgetragen, an diesem Abend bei einigen ZuhörerInnen durchaus Gänsehautfeeling hervorrief. Diese Rede von Peter Lindhorst ist nicht nur eine schöne Erinnerung, sondern auch ein kleiner geschichtlicher Abriss über das Fotobuch und seine Faszination.
286 Fotos. Macht 286 Begegnungen. 1991 beschließe ich, meinem Leben eine neue Richtung zu geben. Ich fange an zu studieren. Mein Geld dafür verdiene ich mir damit, in dem ich weiterhin in meinem erlernten Beruf als Buchhändler jobbe. Es gibt diesen kleinen Laden im Bunker, in dem ich schon ein paar Mal war und mir meine ersten Fotobücher gekauft habe und in Magazinen geblättert, von denen ich vorher noch nie gehört habe. Irgendwann wird dort jemand aushilfsweise gesucht, ich werde dazu angerufen, ob ich nicht …? Es wird das absolut netteste Vorstellungsgespräch, das ich jemals hatte. Wir treffen uns dazu zu einem Abend-Essen und noch vor dem Dessert sage ich zu. Wenn ich nicht in der Uni bin, werde ich also fortan in einem kleinen Laden innerhalb des Bunkers arbeiten, grelles Neonlicht, schlechte Belüftung, draußen regnet es, schneit es, geht die Welt unter. Ich krieg nichts mit, pflege meinen blassen Teint. Für mich ist der Arbeitsplatz hinter meterdicken Mauern ein paradiesischer Ort. Wer in den Haupteingang kommt, läuft schnurstracks auf den Bookshop zu (wie er damals von allen genannt wird, das Angebot ist immerhin international). Die Eingangsfront bietet eine Glasscheibe, durch die neugierige Blicke in das Innere geworfen werden. Nach außen kann man dagegen nicht viel erkennen. Einige nennen den Buchladen deshalb auch scherzhaft das Aquarium. Der Buchhändler selbst fühlt sich dann auch manches Mal wie ein Fisch, der von Regal zu Regal gleitet und nach dem geeigneten Seh- oder Lesefutter für seine Kunden schnappt. Das Verrückte: die PPS Buchhandlung für Photographie kriegt noch gar nicht so viele Bücher, dass alle Regale damit belegt werden. Das Fotobuchsegment ist übersichtlich und so bietet man dann auch Bücher über Fashion oder Graphikdesign Annuals an.
Peter Lindhorst & Michael Klein-Reizenstein
Kunden, vor allem Fotografen, kommen in den Bunker, weil sie Filme entwickeln lassen wollen oder Equipment kaufen oder ausleihen. Die Neugierde oder Wartezeit bei der Schnellentwicklung spült aber fast alle unweigerlich in die Buchhandlung. Daraus entsteht wohl das, was Marketingexperten als optimalen Fall nachhaltiger Kundenbindung beschreiben würden. Man kommt ins Gespräch, trinkt Kaffee zusammen, lässt sich Arbeiten zeigen, empfiehlt Bücher, die passen könnten. Eigentlich ist es immer aufregend, wenn Leute kommen und wir uns über Fotografie und manchmal auch völlig andere Dinge unterhalten. Eine Zentrale des Austauschs und der Begegnungen. Die Fotobuchwelt ist noch ganz anders, als wir sie heute kennen, sie scheint gerade im Aufbruch befindlich zu sein und bildet ein einziges großes Versprechen. Sie ist aufregend und ich sauge dort alles auf, was sich mir bietet. Jeden Tag neue unglaublich tolle Bücher. Von Fehlfarben stammt die Zeile: ich kenn das Leben, bin im Kino gewesen. Ich ändere die Zeile für mich ab: ich kenn das Leben, hab im Bildband gelesen. Jeden Tag neue Entdeckungen, die bei uns in den Wareneingang gespült werden. Leute kaufen Bücher, nicht eines, sondern auf der Verkaufstheke werden oft beeindruckende hohe Stapel gebildet, und es ist definitiv die Zeit, bei dem in manchen Kunden die schlummernde Sammlerleidenschaft geweckt wird. Man begreift seinen Job als Vermittler von Lese-Stoffen. Der Anspruch ist, sein Gegenüber glücklich nach draußen zu entlassen mit dem richtige Buch in der Tasche.
Der Künstler signiert sein Buch.
Da ist z.B. dieser sehr freundlich wirkende Niederländer. Ob er Hilfe brauche, frage ich ihn und wir kommen ins Gespräch. Wir reden über FACE, I-D, über Nick Knight und dessen Buch „Skinheads“, von dem wir beide Fans sind. Wir unterhalten uns über Musik, über Konzerte, entdecken gemeinsame Lieblingsbands, irgendwann sagt er unachtsam, dass er auch ein Buch gemacht habe. Kenne ich das? Famouz heiße es… und da wird mir ein bisschen schwindelig. Es ist ein Buch mit großartigen Porträts von Musikern, über die wir gerade eben noch gesprochen haben. Wir haben das Buch schon unzählige Male verkauft und auch jetzt ist es vorrätig, ich ziehe es aus dem Regal und verrate dem Fotografen, dass viele Porträts zu meinen Lieblingsbildern gehören. Aber vor allem eines der Bilder darin hat extrem große Bedeutung für mich. Einst hing es als Ausriss aus einem Magazin über meinem Bett. Die Aufnahme zeigt die vier Mitglieder einer Band von hinten, die die Stufen zur Lancaster Subway Station hinuntersteigen. Nur einer der jungen Männer dreht sich noch einmal um. Und wirft den Blick zurück. Es ist Ian Curtis von Joy Divsion. Immer wieder habe ich in das Bild soviel Bedeutung hineingelesen und den Blick, den er über die Schulter wirft, unzählige Male neu interpretiert. Jetzt fühlt es sich sehr merkwürdig an, dass ich Jahre später dem Autor des Bildes gegenüberstehe. Aber der Fotograf selbst ist zu dieser Zeit eigentlich noch am Anfang seiner eigenen riesigen Popstarkarriere, er wirkt fast schüchtern und unheimlich zuvorkommend – er hängt dort an der Wand und natürlich wissen das die meisten, es ist Anton Corbijn. Er wird sich immer wieder, wenn er in Hamburg ist, Zeit nehmen, in der Buchhandlung vorbeizuschauen.
Solch interessante Begegnungen gibt es immer wieder. Aber es muss kein Anton Corbijn, kein Anders Petersen sein, kein Peter Lindbergh sein, kein Martin Parr, nicht die damaligen Stars, um denkwürdige Begegnungen zu erleben und tolle Arbeiten präsentiert zu bekommen. Keine Ahnung, warum das so ist, aber der Buchhändler scheint in der allgemeinen Wahrnehmung eine vertrauensvolle Person, der man gerne seine Fotomappe zeigt und auch zu anderen Lebensthemen konsultiert. Ein Kunde geht, ein anderer kommt. Es fehlt nur noch, dass man ausruft: Der Nächste bitte!
Vor fast 20 Jahren im Bunker …
Und der Nächste kommt. Irgendwann spaziert ein junger Mann in die Buchhandlung. Seine Graderobe ist damals noch nicht ganz so geschmackssicher, aber egal, denn wie hat man es als Buchhändler gelernt? „Don’t judge a book by it’s cover“, wir verstehen uns vom ersten Augenblick an sehr gut. Sein Nachname trägt noch einen Zusatz und er hört Darkwave. Michael Klein-Reitzenstein wird in den nächsten Jahren derjenige sein, der sich nicht nur stylemäßig extrem weit aus dem Fenster lehnt, sondern als kompetenter Buchhändler die Belange der Buchhandlung in die Hand nimmt. Er ist eine Traumbesetzung und für ihn ist es ein Traumjob. Der Auszug aus dem Aquarium in größere Räume im Bunker steht an. Der Charme des Provisorischen geht ein wenig verloren, jetzt haben wir aber viel mehr Platz, um ein immer größer werdendes Angebot von Fotobüchern anzubieten. Alles wird größer, auch der Kundenkreis, nicht zuletzt unser eigener Anspruch an ein gutes Fotobuch.
„Ein Foto bedeutet, dass ich von jeder Minute weiß, wo ich war. Deshalb mache ich Fotos. Das ist eine Art visuelles Tagebuch.“ Das Zitat stammt von Andy Warhol, der auf Schritt und Tritt eine Polaroidkamera bei sich hatte, um eine gewaltige Sammlung seiner berühmten Sofortbilder anzuhäufen. Meist waren es bei ihm Bilder von Prominenten und Selbstporträts.
Ich hab keinen blassen Schimmer, wo eigentlich die Polaroidkamera plötzlich herkam. Ich weiß nicht, wie Michael Klein die Kollegen im Materialverkauf immer wieder überzeugen konnte, uns mit Filmen zu versorgen…und vor allem hab ich keine Ahnung, wer genau auf die Idee kam, eine Art visuelles Tagebuch an der schmucklosen Wand zu eröffnen. Das Warholsche Motto schien darin leicht abgewandelt: Ein Foto bedeutet, dass ich weiß, mit wem ich war.
Eine Stimme schwirrt aus der Tiefe des Ladens: Darf ich ein Foto von dir machen? Ohne die Antwort abzuwarten, drückt Michael auf den Auslöser und das Sirren der Kamera ist das akustische Abschlusssignal, das schließlich eine Buchhändler-Kunden-Bekanntschaft besiegelt, in vielen Fällen sogar Freundschaften, die sich bis zum heutigen Tag gehalten haben.
In der Ausstellung: 05. 05. 2017 bis 28. 05. 2017, Enfants Artspace, Pilatuspool 19, 20355 Hamburg
Jedes Foto ein unberechenbares Unikat. Jedes Foto eine Überraschung, die sich erst nach Sekunden auflöste. Und auch bei uns wird dann gerne mal das Foto geschüttelt, bevor es an die Wand wandert zu den anderen Polaroids, die da noch etwas verloren hängen.
Ich würde hier eine kühne Behauptung aufstellen: Facebook wurde nicht erst 2004 erfunden, sondern 1998. Denn nach und nach sammelten wir eine Vielzahl von Profil-Fotos und schufen ein ganz eigenes Facebook . Ein soziales Netzwerk ohne Internet. Eine Community, die miteinander über eine Plattform kommunizieren kann. Die Plattform bildete nämlich die Buchhandlung. Der gravierende Unterschied zu Facebook: bei uns gab es Kaffee.
Mit wachsender Zahl der Polaroids erhält der Ort neben seinem Bücherangebot ein zusätzliches Attraktionspotential. Es soll Leute geben, deren erster Weg schnurstracks zur umfangreichen Ausstellung an der Wand führt, bevor sie überhaupt Buchangebot und Buchhändler eines Blickes würdigen. Wie heißt das Motto: „Facebook ermöglicht es dir, mit den Menschen in deinem Leben in Verbindung zu treten und Inhalte mit diesen zu teilen.“ In der Tat – zu allen, die hier hängen, haben wir eine Verbindung gehabt und engen oder lockeren Austausch mit diesen gepflegt. Michael, mal hinter einer fetten Sonnenbrille, meist hinter Rauchschwaden versteckt, war auf jeden Fall der Impresario, der jeden kannte und wenn noch nicht, dann sorgte er dafür, dass fremde Kunden nicht einfach nur wieder so aus dem Laden verschwanden.
Blick ins Buch „Im Bunker“
Es ließen sich viele Geschichten über die, die in der PPS-Buchhandlung einkehrten und über die, dort arbeiteten, erzählen und die hier heute an der Wand alle präsentiert werden, es würde sich auch sehr viel über die folgenden Jahre sagen lassen. Doch da war ich irgendwann schon nicht mehr dabei … all die Anekdoten und Geschichten, auch die vom traurigen Ende der Buchhandlung im Bunker müsst ihr euch von Michael selbst erzählen lassen. Und wer die ganze Wahrheit erfahren will, kauft das Buch.
Autor dieses Textes ist Peter Lindhorst. Wer Lust auf mehr Texte zu, um und über Fotografie & Fotobücher hat, der klickt die Website von Peter Lindhorst. The beat goes on …