Es gibt Bilder zu denen sagte Arno Fischer sie seien Wiesebilder, denn auf diesen sei nur zu sehen, wie’se das machen und wie’se dies machen. Also Bilder, die auf sehr schlichte Weise einen Vorgang oder einen Prozess beschreiben, indem dieser dokumentiert wird. Solche Art von Reportage- oder Dokumentationsbildern sind heute obsolet, weil wir in der Regel wissen, wie die Welt in Nah und Fern aussieht. Diese Bilder eignen sich als Illustrationen im angewandten Bereich der Magazine und Zeitungen. Aber selbst in den Redaktionen wendet man sich immer mehr von dieser direkten Erzählweise ab und illustriert Themen entweder mit Portraits oder mit Bildergeschichten, die einen redaktionseigenen Zugang haben, den sogenannten „speziellen Dreh“. In der Regel geht es bei diesem „Dreh“ darum, einen neuen, überraschenden Zugang zu einem alt bekannten Thema zu finden, der die LeserInnen dazu verführen soll, sich dieser oder jener Geschichte mit Aufmerksamkeit zuzuwenden, obwohl sie diese oder jene Thematik grundsätzlich schon kennen. Die fotografische Vermessung der Welt hat schon stattgefunden, während die fotografische Erklärung der heutigen Welt in vielen Bereichen noch auf sich warten lässt – teilweise auch, weil wir diese Welt oft nicht mehr verstehen. Wir sehen und spüren zwar die Auswirkungen, aber die Zusammenhänge und die oft vielfältigen Ursachen können wir nur schwer begreifen und noch schwerer in einige wenige Bilder fassen.
Ein möglicher Ausweg bzw. Lösung kann die möglichst umfassende und längere Abhandlung eines Themas sein, indem man dieses zum Beispiel von vielen unterschiedlichen Standpunkten und von vielen unterschiedlichen AutorInnen fotografisch untersuchen lässt. Der Berufsverband der deutschen FotografInnen und FotojournalistInnen, Freelens e.V. , hat nun zum zweiten Mal ein solches Gruppenprojekt initiiert: zum Thema „Essen“ und allem was im weitesten Sinne damit zu tun hat. Nun liegt das Ergebnis als Fotobuch vor: 448 Seiten stark, gut zwei Kilo schwer, 716 Fotografien, einem Geleitwort von Christoph Schaden und verschiedenen Textessays. Titel: „Mahlzeit, Deutschland!“. Aufgefordert wurden mehr als 2300 Mitglieder, beteiligt haben sich 294 und mit Beiträgen im Buch vertreten sind 187 Fotografen und Fotografinnen.
Und was sehen wir: Füttern eines Babys, Tintenfisch mit Kochtopf, Würstchenesser während eines Schützenfestes, Bauarbeiter bei der Mittagspause, Spargelfelder, Frau Eigner auf der „Grünen Woche“, Ziegen eines Demeterbetriebes, Kaffeekränzchen mit älterer Frau, Weizenfeld wird mit Düngemittel besprüht, Metzgereiauslagen, Schweinestall, Essensausgabe im Flugzeug, Lebensmitteltests, Grillsession. Das sind die ersten 39 Seiten und auf den weiteren fast 400 Seiten wird tatsächlich fast kein Thema ausgelassen, welches sich mit dem Thema Nahrung, Nahrungsaufnahme und Nahrungsproduktion beschäftigt. Allesamt in Deutschland fotografiert – sauber, ordentlich und gründlich.
Das Buch ist eine wahre Wunderkammer des Essens. Layoutet, wie ein Magazin, voll, randvoll mit Bildern. Und hat man die Wunderkammer durchschritten, hat man viel gesehen und doch nur weniges wahrgenommen. Es ist einfach zu viel, die Bilder sind sich sehr ähnlich in der Bildsprache und leider oft so gestrickt, dass Arno Fischer seine helle Freunde nicht daran gehabt hätte. Eine große nicht endende Aneinanderreihung von Wiesebildern: wie’se essen, wie’se einkaufen, wie’se ernten, wie’se produzieren …
Es gibt auch Ausnahmen, wie die Serie von Julia Unkel (alle Bilder in diesem Artikel): Auf einer Doppelseite schaut einen in einer Studioaufnahme der gerade frisch abgetrennte und blutige Kopf eines Bullen an – auf weißem Hintergrund. Auf der darauffolgenden Doppelseite sind vier Bilder zu sehen, die die gesäuberten Arbeitsräume samt Gerätschaften und einem Portrait des Schlachters zeigen. Aufnahmen wie aus einem Operationssaal, lediglich die blutbespritzte Schürze des Metzgers lassen erahnen, was sich dort Tag für Tag abspielt. Das ist subtil und geht unter die Haut, da entsteht ein kleines Stück Kopfkino. Das verlängert die Halbwertszeit dieser Bilder. Gleichzeitig merkt man diesen Bildern an, dass sich jemand Gedanken gemacht hat und eine kritische Haltung durch die Art und Weise der fotografischen Umsetzung formuliert. Dem Gros der Bilder und Geschichten in diesem Buch fehlt genau dies.
Die große Schwäche des Buches liegt an der Themenstellung und/oder der Interpretation des Themas. Denn Essen, Ernten, Produzieren und Konsumieren ist noch kein Thema, sondern schlicht eine Tätigkeit verbunden mit einem Ort. Es wurde scheinbar nicht dazu aufgerufen, diesen für die Menschheit so wichtigen Bereich zu untersuchen, sondern diesen darzustellen. Das ist gelungen, hilft aber wenig. Weder fotografisch noch thematisch. Schade.
Das Buch als Objekt transportiert diesen Mangel leider auch. Es ist zwar alles drin und dran, aber nur im Sinne der reinen Dokumentationspflicht. Ordentlich und spießig. Etwas mehr Rock’n Roll und Punk à la Martin Kippenberger – der so treffend im Vorwort erwähnt wird – hätte der Sache geholfen.
Es ist natürlich auch ein kompliziertes Unterfangen für einen Verband, der ja keine homogene Mitgliederschaft hat, ein qualitativ hochwertiges und gleichzeitig gerechtes Produkt wie ein Buch zusammenzustellen. Aber wie man dem Impressum entnehmen kann, gab es eine Jury. Allerdings fragt man sich, was hier juriert wurde. Vielleicht wäre ein Kurator oder eine Kuratorin für Themenfindung, Editing und auch für die Erstellung des Katalogs eine Lösung gewesen.
Christoph Schaden hat in seinem klugen Vorwort einen schönen, kurzen Abriss zur Kunstgeschichte hinsichtlich der fotografischen Auseinandersetzung mit Speisen geschrieben. Er hat das Thema des Buches fotohistorisch eingeordnet und kurz angerissen, welche herausragenden Ansätze es bisher gab. Das ist lehrreich und hätte eine gute Grundlage für Diskussionen über das genauere Thema des Buches abgegeben.
Wenn ich es richtig verstanden habe, dann geht es bei den von Freelens e.V. ins Leben gerufenen Gruppenprojekten auch darum, ein Statement abzugeben an die Medienbranche. Man will Stärke zeigen durch die Kompetenz für das Medium Fotografie. Das ist ein wunderbarer Ansatz, denn neben den wichtigen Antworten auf Fragen nach Honorarhöhen, Nutzungsrechten etc. hilft uns FotografInnen für den alltäglichen Überlebenskampf in einer sich schnell wandelnden Branche auch der Beweis, wie wichtig Fotografie sein und wie viel Fotografie bewirken kann. Das gelingt aber nur, wenn den Bildern eine Relevanz zu eigen ist und das Betrachten der Bildern mit einem Erkenntnisgewinn einhergeht. Let’s do !
Mahlzeit, Deutschland | dpunkt.verlag GmbH | 25,4 x 20,8 x 3,4 cm | € 39,90